Neue Strategien entwickeln : Der neue §114 trifft hauptsächlich andere anderswo.
Neue Strategien entwickeln : Der neue §114 trifft hauptsächlich andere anderswo.
Die Stoßrichtung des neuen Gesetzes zielt nicht auf die Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Revolution von links, sondern eben auf die Wiedererlangung polizeilicher Autorität in den Kiezen und Vierteln, obwohl sie selbstverständlich auch gegen antifaschistische Demonstrantionen und linke Proteste zur Anwendung gebracht werden wenn es notwendig erscheint. Die dabei wichtigste Folge des neuen Paragraphen eigenes Handeln im Handgemenge : Wie künftig mit von Polizeigewalt Betroffenen solidarisch sein, wenn unser bisheriges Handeln ; das Hinlaufen, Festhalten, das versuchte Rausziehen und genaue Beobachten nicht etwa hilft, sondern die Konsequenzen für Betroffene sogar verschlimmert ? Immerhin sieht der neue §114 vor, die Mindeststrafe von drei Monaten zu verdoppeln, wenn ein „tätlichen Angriff“ von zwei oder mehr Personen „begangen“ wird. Kurz : Gelingt die „Gefangenenbefreiung“ nicht, droht allen Beteiligten ein halbes Jahr Knast wenn die Polizei es so will. Trotz dieser Konsequenzen werden die Folgen des neuen Gesetzes hauptsächlich für andere anderswo zu spüren sein : Bei „verdachtsabhängigen“ wie bei „-unabhängigen“ Personenkontrollen, beim „Racial Profiling“, bei nicht umgehend und still befolgten „Platzverweisen“ etwa für Wohnungslose, bei berechtigten Ausrastern im Jobcenter, bei Pfändungsmaßnahmen der Behörden oder bei Zwangsräumungen von Wohnungen. Nicht zu vergessen bei von der Polizei erkannten „Gefährdungslagen“ durch an Straßenecken Herumstehende, durch Drogendealer, Biertrinker und ganz allgemein durch Menschen, die allein durch ihre Anwesenheit die Odnung eines öffentlichen Raums „gefährden“ könnten – schlicht immer, wenn Einzelne mit der Definitionsmacht der Polizei konfrontiert sind. Ihnen gegenüber werden PolizistInnen die neue Macht ausspielen. Und das meist unbemerkt von der Öffentlichkeit oder wenn doch, dann mit zustimmender Billigung durch die Mehrheitsgesellschaft. Das zeigen Reaktionen auf die immer wieder medienwirksam durchgeführten polizeilichen Großkontrollen in „Gefahrengebieten“ oder an „sozialen Brennpunkten“. Der neue Paragraph ist eine Reaktion auf die Verunsicherung der Politik auf die fortschreitende soziale Spaltung. Er bereitet den Rahmen für eine rücksichtslose Kontrolle des öffentlichen Raums. Die Fixierung linker Kritik auf eine verstärkte Repression gegen mögliche Proteste verkennt das eigentliche Potential des Gesetzes und macht Chancen für sinnvolle Intervention gleichzeitig unsichtbar. Viele in der Zukunft Betroffene werden die Entwicklungen nicht aufmerksam verfolgen. Es müsste deshalb mit ihnen Kontakt aufgenommen werden, wir müssten sie über das neue Gesetz informieren und Kanäle öffnen, auf denen drohende Falschanzeigen und Übergriffe durch die Polizei mit uns kommuniziert werden können.
Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um „Sicherheit“ und Gesetze die diese herstellen sollen, sind verschärfte Auseinandersetzungen um öffentlichen Raum, nachdem die Mehrheitsgesellschaft auf Vertrauen und Respekt der Exkludierten zunehmend verzichtet und die Politik den Anspruch auf Inklusion aller mehr und mehr zugunsten offener Repression aufgibt. Nachdem vermehrt Verbote öffentlichen Alkoholkonsums ausgesprochen wurden oder permanente Kontrollen einzelner Gruppen zum Normalfall geworden sind und nachdem ehemals öffentlichen Zonen der Innenstädte immer weiter zu privatisierten Terrains gemacht wurden, wird die nächste Stufe in der Auseinandersetzung darum gezündet, wer öffentlichen Raum zu was nutzen darf. Mit dem Rückzug eines vorgeblich „moderierenden“ Staates und des Anspruchs seiner Polizei, ohne Ausnahme „für alle“ da zu sein, wird in den Kiezen und Vierteln allerdings auch zunehmend eine Leerstelle geschaffen, die im Kampf um diesen öffentlichen Raum eigentlich besetzen werden müsste, was allerdings notwendigerweise ein echtes Interesse an häufig als peripher empfundenen Gruppen voraussetzte. Das weitgehende Desinteresse in der deutschen Linken an den immer wieder heftig geführten Kämpfen in den französischen Banlieues, wo sich eine solche Entwicklung im fortgeschrittenen Stadium besichtigen lässt, und manchmal ganze Viertel gegen die von der Polizei ausgeübte Gewalt revoltieren, macht aber skeptisch, ob sich ein solches Interesse entwickeln lässt, wenn es „unsere” Viertel betrifft. Das Verharren in der eigenen Wirklichkeitsblase verhindert aber nicht nur die Wahrnehmung von Verschärfungen der Lage, sondern auch das Entstehen neuer Koalitionen auf der Straße an denen wir beteiligt sind (und nicht fundamentalistische oder sogar rechte Strukturen). Gleichzeitig behindert es auch eine strategische Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen und Brüche. Dabei könnte uns die Entwicklung sogar in die Hände spielen, denn sie eröffnet eben nicht nur neue Interventionsfelder.
Denn sie müsste auch zu einem Hinterfragen eigener Aktionsformen und seit Jahren bestehender Routinen führen. Nicht nur, weil die angesprochenen nötigen Interventionenen bei Polizeigewalt und drohenden Falschanzeigen nicht in Form legalisierter Proteste ablaufen können, weil den Betroffenen appellativ in Kameras gehaltene Protestschilder weniger helfen als das Herstellen von Überzahl im geeigneten Moment. Auch das Repressionspotential, das sich tatsächlich gegen unsere Strukturen richten wird, erforderte beispielsweise die Überprüfung der Gewohnheit, Demonstrationen seit Jahren in der Regel nur noch angemeldet stattfinden zu lassen. Schon bisher muss die Tatsache, bewusst und ausschließlich auf jene Spielfelder zu mobilisieren, auf denen die Polizei bestens vorbereitet und mit weit überlegener Ausrüstung agiert, mehr als ein Stirnrunzeln auslösen. Wenn künftig jedoch auch die ausschließliche Teilnahme angemeldeten Demos vor einer Haftstrafe nicht mehr mit hinreichender Sicherheit schützt, warum sollte der Nachteil einer Vorabalarmierung der Polizei dann länger hingenommen werden ? Es nicht zu tun, eröffnete neue strategische Möglichkeiten. Bisher ist es noch zu keinem Anlass gelungen, eine durch Großereignisse bedingte Personalschwäche der Polizei zu unseren Gunsten an anderen Orten auszunutzen. Aber das muss ja nicht so bleiben. Dezentral, kurz, schnell und vor allem unberechenbar müssten unsere Reaktionen ausfallen, gerade weil die Polizei im Alltagsgeschehen ihren Vorteil der Überzahl und überlegener Ausrüstung nicht – oder wenn, nur mit erheblicher Verzögerung – ausspielen kann. Es ist also falsch, den an vielen Stellen laufenden Gesetzesverschärfungen und dem Ausbau des repressiven Apparats nur beklagend und mit Furcht zu begegnen. Wir müssen umsichtig und vorbereitet damit umgehen ; es sollte uns vor allem aber aufzeigen, wie verunsichert Herrschende und auch ihre Polizei sein können, wenn der gesellschaftliche Grundkonsens zerfällt. Diese wachsende Verunsicherung sollte uns auf jene Handlungsfelder führen, an denen wir sie ausnutzen und verstärken können – gerne auch gemeinsam mit anderen, die sich im Kampf um öffentlichen Räume befinden.
- Inhaltsverzeichnis
- Seite 1 : Unberührbare Polizei, der neue §114
- Seite 2 : Himmlers Freunde und Helfer
- Seite 3 : „Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provozieren.“
- Seite 4 : Neue Strategien entwickeln : Der neue §114 trifft hauptsächlich andere anderswo.