Ein Begriff des Irrsinns ?

Das Geschehen um die belagerte Stadt Kobane hält viele in Atem und bringt sie um den Schlaf. Es wird aber auch vieles verän­dern, die Echtzeit­in­for­ma­tion zeigt Wirkung. Aus Ohnmacht kann Wider­stand werden, der angesichts der neuen Heraus­for­de­rungen nötiger denn je erscheint.

Eine Einschät­zung.

irrsinn

« Derweil wird der Name der syrischen Stadt Kobane zu einem Begriff des Irrsinns », so machte am Abend des 3.Oktober die Haupt­nach­rich­ten­sen­dung des ZDF einen Beitrag über die zu diesem Zeitpunkt bereits seit Wochen belagerte kurdi­sche Stadt auf. Und die Begleit­um­stände des ausschließ­lich von den Selbst­ver­tei­di­gungs­kräften der YPG/YPJ geführten Vertei­di­gungs­kampfes lassen tatsäch­lich an einen, einer irren Phantasie entsprun­genen Plot denken : Während in der Stadt hoffnungslos unter­le­gene Verteidiger*innen mit veral­teten Waffen und schwin­dender Munition gegen moderne Panzer und Artil­lerie des « IS » um ihr Leben kämpfen, wird auf dem einen Kilometer entfernten inter­na­tio­nalen Presse­hügel über das Catering am nächsten Mittag verhan­delt.

« Kobane fällt – und die Welt schaut zu ! » Selten war ein knapper Slogan präziser in der Beschrei­bung eines komplexen Vorgangs. Trotzdem trifft der Begriff « Irrsinn » nicht das, was da « vor aller Augen » in einer kleinen Stadt in Rojava, dem syrischen Teil Kurdi­stans, passiert. Die krasse Scheiße hat nämlich Kalkül. Der Master­plan hinter dem Geschehen ist in Ankara entstanden, und in der Umset­zung der eigenen Ideen zeigt sich die türki­sche Regie­rung konse­quent : Während Milizio­näre des « Islami­schen Staates » scheinbar nach Belieben die Grenze zwischen der Türkei und Syrien passieren dürfen, werden schwer verwun­dete Kämpfer*innen der YPG/YPJ beim Errei­chen der türki­schen Grenze von Geheim­dienst­lern und Grenz­po­li­zisten verhaftet. Der türki­schen Regie­rung geht es um ein Benutzen des « IS » für ihre eigene Agenda gegen die kurdi­sche Autonomie und auch gegen das Assad-Regime.

Appelle an die Adresse Ankaras, in den Krieg einzu­greifen, ignorieren die gar nicht heimliche Allianz eines autori­tären Systems mit den brutalen Mördern des « IS ». Niemand fordert auf kurdi­scher Seite ein Eingreifen der Türkei – diese Vorstel­lungen existieren nur in Brüssel oder Washington. Jenen Macht­zen­tren, in denen die Tatsache, dass es bereits entschlossen kämpfende Frauen und Männer « am Boden » gibt, komplett negiert wird. Washington sucht angeb­lich „Verbün­dete am Boden” und will den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Anders als berichtet wird, wird kein Eingreifen der türki­schen « IS»-Komplizen gefor­dert, sondern die Unter­stüt­zung der sich Tag für Tag aufop­fernden Kämpfer*innen der YPG/YPJ. Das könnte leicht geschehen. Ein Korridor, über den militä­ri­sches Gerät und auch perso­nelle Verstär­kung nach Kobane gelangen könnte, würde schon sehr helfen. Denn die Verstär­kung steht seit Tagen in Massen bereit : Tausende Kurd*innen warten an der Grenze darauf, den Volks­ver­tei­di­gungs­mi­lizen zu Hilfe zu kommen, werden von der Türkei jedoch gewaltsam am Grenz­über­tritt gehin­dert.

Auf der anderen Seite scheint es für die US-geführte « Koali­tion gegen ISIS » nicht nur unmög­lich zu sein, auf freiem Feld stehende Panzer zu zerstören, auch der Nachschub für die « IS»-Milizen kommt offenbar ungehin­dert aus dem Süden ins Kampf­ge­biet. So werden einzelne Erfolge der Verteidiger*innen, die unglaub­li­cher­weise immer noch in der Lage sind, die Killer teilweise aus der Stadt zu vertreiben, umgehend zunichte gemacht. So konnte der « IS », dank neuer Waffen und neuer Kämpfer, am 8.Oktober erneut in Kobane einfallen, nachdem es der YPG/YPJ in der Nacht zuvor gelungen war, weite Teile der Stadt zu befreien.

Die Situa­tion in und um Kobane erinnert so an Namen und Ereig­nisse, die sich ins Kollek­tiv­ge­dächtnis einge­graben haben : Madrid, Sarajevo, vor allem aber auch an Warschau, wo Stalins Rote Armee aus Macht­kalkül in Reich­weite tatenlos verharrte, als die faschis­ti­sche Wehrmacht den Aufstand in der Stadt restlos vernich­tete. Der Name der kurdi­schen Klein­stadt Kobane wird sich nun ebenso ins Gedächtnis einbrennen. Es ist jedoch zu bezwei­feln, dass das mit dem Begriff des « Irrsinns » geschieht. Denn die Tatsache, dass die Welt in Echtzeit zusieht, wie die Verteidiger*innen im Stich gelassen werden, unter­scheidet die Situa­tion von den genannten histo­ri­schen Beispielen.

Denn die angesichts der Situa­tion von vielen empfun­dene unerträg­liche Hilflo­sig­keit und Ohnmacht  beginnt sich auflösen. Was aus ihr wird, ist offen. Zu hoffen ist, dass es Wut und Zorn über die von der Türkei und dem Westen gewollte versuchte Zerschla­gung eines linken gesell­schaft­li­chen Experi­ments in Rojava sein werden. Die Zeichen stehen bereits auf Sturm : In der gesamten Türkei haben Aufstände begonnen, die glaub­haften Quellen zufolge, von kurdi­schen und türki­schen Linken gemeinsam auch unter Einsatz militanter Mittel getragen werden. In Ahmed, Batman, aber auch in Istanbul – immerhin die Stadt mit der größten kurdi­schen Popula­tion – gelingt es der Regie­rung nur unter Einsatz des Militärs und in Koope­ra­tion mit Faschisten und « IS»-Fans, die Lage halbwegs zu kontrol­lieren.

Auch in Europa hat sich die Lage verän­dert. War die europäi­sche Linke, von einigen Tradi­ti­ons­ver­bänden einmal abgesehen, anfangs zöger­lich, beginnt inzwi­schen eine breitere Solida­ri­täts­be­we­gung. Sicher auch beein­druckt von den noch immer vorhan­denen Möglich­keiten der kurdi­schen Freund*innen, die nicht nur blendend mobili­sieren, sondern auch noch immer in der Lage sind, beispiels­weise mehrere deutsche Verkehrs­knoten gleich­zeitig zu besetzen, wo wir für einen einzelnen Haupt­bahnhof schon lange Vorbe­rei­tungen benötigen.

Den Anfang machten mit ARAB und NAO gewis­ser­maßen « übliche Verdäch­tige », deren Spenden­kam­pagne « Waffen für die YPG/YPJ » zunächst etwas belächelt wurde – wurden einige Stellung­nahmen der Initiator*innen doch von einer bei ihnen ebenso üblichen Selbst­über­schät­zung begleitet. Inzwi­schen hat aber ein Umdenken einge­setzt – angesichts von Berichten über sich mit ihrer letzten Kugel selbst­tö­tende YPG/YPJ-Kämpfer*innen ist schließ­lich allen klar, dass schon gespen­dete Munition konkret Leben retten kann. (Was kosten heute auf dem Schwarz­markt eigent­lich 100 Schuss für eine AK47?)

Auch das politi­sche Bewusst­sein verän­dert sich. Einmal abgesehen davon, dass die Bilder der entschlos­senen YPJ-Kämpfe­rinnen das erste links­mi­li­tante Modemo­dell in der Celebrity-Welt auslösen, seit sich Che Guevara seine Mütze aufsetzte, nimmt auch das Wissen um die politi­sche Bedeu­tung des Kampfes in Rojava zu. Plötz­lich fällt vielen auf, dass sie Entwick­lungen in der kurdi­schen Bewegung jahre­lang schlicht ignoriert haben und dass das sukzes­sive Entstehen eines fortschritt­li­chen Gesell­schafts­ver­suchs in Kurdi­stan nicht oder kaum bemerkt wurde. Speziell in Rojava taten sich für antipa­tri­a­chale, antika­pi­ta­lis­ti­sche und basis­de­mo­kra­ti­sche Struk­turen nach dem kriegs­be­dingten Verschwinden des autori­tären syrischen Staates neue Möglich­keiten auf.

Immer mehr Menschen begreifen, dass wir vor neuen Heraus­for­de­rungen stehen. Und während sich alte Struk­turen der Antifa aus Ratlo­sig­keit auflösen, hat der neue Kampf vielleicht schon längst begonnen. Es ist ein Kampf, bei dem neue Bündnisse benötigt werden, und bei dem wir verläss­liche Bündnispartner*innen sein müssen. Dass diese Partner*innen auch in der kurdi­schen Bewegung zu suchen sind, ist fast schon ein Treppen­witz. War die Koope­ra­tion zwischen (west-) deutscher Linker und kurdi­scher Linker doch einmal sehr intensiv – im antifa­schis­ti­schen Kampf in Deutsch­land und auch in den kurdi­schen Bergen, in die nicht wenige deutsche Genoss*innen gingen, um die PKK im Kampf gegen das türki­sche Regime zu unter­stützen.

Die neuen Heraus­for­de­rungen sind die anti-emanzi­pa­to­ri­schen Bewegungen der religiösen Fanatiker. Dabei ist es gleich, ob sie ihre religiöse Konno­ta­tion aus dem Islam, der Bibel oder dem « europäi­schen Abend­land » samt „freier Markt­wirt­schaft” ableiten. Der « Kampf der Kulturen » ist keiner zwischen Religionen. Es ist einer zwischen jenen mit emanzi­pa­to­ri­schen Vorstel­lungen, wie sie beispiels­weise in Rojava umgesetzt werden sollen, und denen, die eine Befreiung der Menschen mit allen Mitteln verhin­dern wollen. In der Wahl ihrer Mittel unter­scheiden sich unsere Feinde dabei nur nach histo­ri­scher Lage. (Die Freund*innen des « Lower Class Magazines » haben zu diesem Thema einen lesens­werten längeren Artikel geschrieben.)

Es ist deshalb ungemein wichtig, jetzt solida­risch zu sein mit jenen, deren Freund*innen, Genoss*innen und Verwandte diesen Kampf aktuell am bittersten auszu­tragen haben. Wir müssen mit ihnen sein – auf unseren Straßen, auf den Gleisen in den Bahnhöfen und in den Termi­nals der Flughäfen. Alleine schon, um zu verhin­dern, dass das versuchte Anwanzen der islamo­phoben Vertreter des « Kampfes der Kulturen » irgend­einen Erfolg hat und der wahre Charakter der Heraus­for­de­rung im Kampf um eine befreite Gesell­schaft hinter dem Gewäsch von Spinnern zu verschwinden droht.

« Berxwedan Jiyane ! » « Wider­stand heißt Leben ! »

[Loba]

P.S. Das soli-komitee wuppertal (so_ko_wpt) ruft für heute in Wuppertal und für Samstag in Düssel­dorf zur Teilnahme an den Solida­ri­täts-Demos für Kobane auf. Dazu hat es einige Forde­rungen formu­liert :

  • Ein sofor­tiges Ende der Unter­stüt­zung des IS durch die türki­sche Regie­rung
  • Die Öffnung eines türkisch-syrischen Grenz-Korri­dores für Nachschub, Freiwil­lige und militä­ri­sches Gerät
  • Die umgehende Freilas­sung aller an der türki­schen Grenze verhaf­teten Geflüch­teten aus Kobane
  • Die sofor­tige Strei­chung der Arbei­ter­partei Kurdi­stans (PKK) von der europäi­schen « Terror­liste »
  • Die sofor­tige Freilas­sung aller aufgrund der §§129 in D-Land einsit­zenden Kurd*innen und aller politi­scher Gefan­gener
  • Eine logis­tische und techni­sche Unter­stüt­zung der Volks­ver­tei­di­gungs­mi­lizen YPG und YPJ im Kampf gegen den IS

Außerdem veran­staltet das so_ko_wpt am Sonntag, den 19.10.2014 in Wuppertal im Hayat auf dem Elber­felder Ölberg (Schrei­ner­straße 26) eine Veran­stal­tung unter dem Titel « Für eine neue Solida­rität ! Das Projekt Rojava und die Rolle der Türkei ». Einge­laden sind Ismail Küpeli und Aktivist*innen der kurdi­schen Bewegung. (Beginn 18 Uhr, Eintritt frei)

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Bericht aus Süd-Kurdistan : Nach dem Fall von Mossul

Eine Freundin von uns befindet sich zur Zeit in Süd-Kurdi­stan, also im nördli­chen Irak, nur wenige Kilometer von Mossul entfernt. Die Millio­nen­stadt Mossul wurde vor einigen Tagen von den radikal-islamis­ti­schen Milizen der « ISIL » («Islami­scher Staat im Irak und der Levante») besetzt. Während die Situa­tion im Irak nach anfäng­li­cher Schock­starre der Medien inzwi­schen in den Top-Nachrichten und Sonder­sen­dungen angekommen ist, gibt es zur Lage in der autonomen kurdi­schen Region kaum Berichte. Dabei spitzt es sich auch in den kurdi­schen Gebieten insge­samt weiter zu. Wir haben uns daher entschlossen, aus den verschie­denen E-Mails unserer Freundin einen Bericht zusam­men­zu­stellen.

Nachdem die nahge­le­gene Millio­nen­stadt Mossul in die Hand der radikal-islamis­ti­schen « ISIL » (ISIS) gefallen ist,  ist die Situa­tion in der gesamten Region extrem gefähr­lich. Durch den flucht­ar­tigen Rückzug der iraki­schen Armee aus Mossul hat der Terror der islamis­ti­schen Kämpfer nun auch den Norden des Irak und die Grenze zur bislang einiger­maßen stabilen Region des autonomen kurdi­schen Gebietes erreicht. Letzteres ist das Ziel zehntau­sender – die Medien sprechen von bis zu 500.000 – auf der Flucht befind­li­cher Menschen. Entgegen den Beteue­rungen der « ISIL » fallen immer wieder auch Zivilisten den Terror­gruppen zum Opfer. Deren Ankün­di­gung, die Menschen hätten « nichts zu befürchten, solange sie nicht Schiiten » seien, spricht nicht nur für einen unglaub­li­chen Zynismus, sondern auch für eine menschen­ver­ach­tende Ideologie. Ihre Bereit­schaft zur brutalen Ermor­dung Unbewaff­neter haben sie schon seit geraumer Zeit im benach­barten kurdi­schen Gebiet des bürger­kriegs­er­schüt­terten Syrien («Rojava») unter Beweis gestellt. Immer wieder kam es in Rojava zu fürch­ter­li­chen Massa­kern an der kurdi­schen Zivil­be­völ­ke­rung durch ISIS-Millizen. Die Mörder der ISIL/ISIS kommen auch aus Europa und Deutsch­land. Die Rekru­tie­rungen laufen über soziale Netzwerke im Internet und bei regel­mä­ßigen Veran­stal­tungen. Unsere Freundin stellte beim Betrachten der Bilder von der Beset­zung Mossuls fest, dass ihr die Fahne der Islamisten erst kürzlich begegnet ist : Die Security des islamis­ti­schen Predi­gers Pierre Vogel trug bei seinem Auftritt in Wuppertal das gleiche Logo auf ihren Shirts.

Die Vertei­di­gung der kurdi­schen Bevöl­ke­rung in Syrien musste dabei alleine von den Guerillas der YPG geleistet werden. Sie sind die Selbst­schutz­ein­heiten der kurdi­schen Gebiete in Syrien. Die Peschmerga, die Streit­kräfte des autonomen kurdi­schen Gebietes im Irak, hatten hingegen in der Vergan­gen­heit versucht, sich möglichst aus den Konflikten in der Region heraus­zu­halten. Jetzt – nach der Flucht der regulären iraki­schen Armee – stellen die Peschmerga die einzige Schutz­macht für die Zivil­be­völ­ke­rung des nördli­chen Irak dar. Ungeachtet tradi­tio­neller Konflikte zwischen arabi­scher und kurdi­scher Bevöl­ke­rung des Nordirak versu­chen auch viele arabisch­stäm­mige Flücht­linge die Region um Arbil und Dohuk zu errei­chen. Nachdem sie anfäng­lich die Grenze noch passieren konnten und größten­teils bei Familien und privat unter­ge­bracht wurden, haben die Peschmerga inzwi­schen begonnen die herein­strö­menden Menschen aus Furcht vor einsi­ckernden Islamisten zu kontrol­lieren. Die Folge sind lange Schlangen Wartender an der Grenze zwischen Irak und Süd-Kurdi­stan. Ein Teil der Geflüch­teten lebt jetzt in hastig errich­teten Zeltla­gern. Viele mussten die knapp 100 Kilometer zwischen Mossul und Süd-Kurdi­stan zu Fuß zurück­legen, weil ihnen verboten wurde, ihre Autos mitzu­nehmen, oft haben sie wenig mehr mitnehmen können, als das, was sie gerade dabei hatten als die Milizen der ISIL in die Stadt kamen.

UNHCR-Übersicht der Flüchtlingsströme im Irak

UNHCR-Übersicht der Flücht­lings­ströme im Irak

Die sich bislang blockie­renden Verhält­nisse auf kurdi­scher Seite – so ließ der Präsi­dent der autonomen kurdi­schen Region im Irak, Masud Barzani von der Demokra­ti­schen Partei Kurdi­stans (KDP), in der Vergan­gen­heit auch schon die Grenze zu Rojava für Flücht­linge aus Syrien schließen – geraten jedoch in Bewegung. Die Rivali­täten zwischen der Autono­mie­re­gie­rung und den Struk­turen in Rojava, die der kurdi­schen Arbei­ter­partei PKK nahestehen sollen, treten angesichts der Lage in den Hinter­grund. Nachdem unsere Freundin am Dienstag (10.06.) noch berich­tete, ein Angebot der YPG an die Peschmerga zur gemein­samen Vertei­di­gung gegen die Islamisten sei ohne Antwort aus Süd-Kurdi­stan verblieben, wurde einen Tag später von der kurdi­schen Guerilla, die über bis zu 40.000 Kämpfe­rInnen verfügen soll, verlaut­bart, dass sie ab sofort zusammen mit den Peschmerga koordi­niert die Vertei­di­gung der kurdi­schen Bevöl­ke­rung in ganz Kurdi­stan übernommen haben. Das wurde wenig später auch in den Nachrich­ten­sen­dungen Süd-Kurdi­stans offiziell bestä­tigt.

Die Überwin­dung der starken Rivalität zwischen der KDP Masud Barzanis und der PKK-nahen Guerilla YPG ist aufgrund der für Süd-Kurdi­stan drama­ti­schen Lage wichtig. Auch wenn es dort noch nicht zu direkten Kampf­hand­lungen gekommen ist, stellt der Fall Mossuls ein ernstes Problem dar. Die gesamte Versor­gung der Region ist von Wegen abhängig, die über Mossul führen und die deshalb die Haupt­schlag­ader des autonomen kurdi­schen Gebietes sind. So berich­tete unsere Freundin schon am Montag von ersten Engpässen in der Benzin­ver­sor­gung, die kurz darauf tatsäch­lich zusam­men­brach. Tausende Menschen befanden sich am Dienstag auf der vergeb­li­chen Suche nach Treib­stoff. Einge­zwängt zwischen dem zuneh­mend umkämpften Mossul und der Türkei, sitzen die Menschen Süd-Kurdi­stans in einer Art Falle, denn über die Situa­tion an der Grenze zur Türkei gibt es wider­sprüch­liche Meldungen. Einmal heißt es, die Grenze sei in beide Richtungen geschlossen, ein anderes Mal wird das bestritten. Auch Berichte über erste Gefechte an der Grenze ließen sich von Süd-Kurdi­stan aus nicht bestä­tigen. Eine koordi­nierte kurdi­sche Aktion und ein Versuch, die Versor­gungs­wege nach Süden freizu­kämpfen scheint jeden­falls dringend notwendig. Erste Erfolge zeichnen sich ab, die Stadt Kirkuk soll inzwi­schen unter kurdi­scher Kontrolle stehen, es gibt aller­dings auch erste ernst­hafte Verluste bei den Peschmerga. Die Versor­gungs­lage der Bevöl­ke­rung hat sich mittler­weile offenbar auch wieder etwas stabi­li­siert. In einer der letzten E-Mails aus der Region hieß es, dass zumin­dest Benzin wieder zu bekommen ist. Für die flüch­tende Bevöl­ke­rung in den Auffang­la­gern spitzt sich die Lage jedoch, trotz einset­zender inter­na­tio­naler Unter­stüt­zung, täglich weiter zu.

Auch über die Möglich­keit eines militä­ri­schen Eingrei­fens der Türkei wird in Süd-Kurdi­stan zuneh­mend speku­liert, nachdem die Islamisten türki­sche Staats­an­ge­hö­rige als Geiseln genommen haben. Was ein solches Eingreifen für das autonome kurdi­sche Gebiet im Nordirak und den kurdi­schen Abwehr­kampf in Rojava bedeu­tete, ist nur sehr schwer einzu­schätzen. Denn trotz einer in der Vergan­gen­heit teils erstaun­li­chen wirtschaft­li­chen Zusam­men­ar­beit Barzanis mit Erdogans AKP-Regie­rung gibt es ein tiefsit­zendes Mißtrauen. Auf kurdi­scher Seite ist dies nicht zuletzt in einer bis vor kurzem fortge­setzten türki­schen Unter­stüt­zung für die islamis­ti­schen Gruppen in Syrien begründet, einige sehen hinter der Entwick­lung im Irak sogar einen türki­schen Master­plan am Werk. Die Türkei wiederum fürchtet eine weitere kurdi­sche Autonomie an ihrer Grenze. Die jetzt bekannt­ge­wor­dene Zusam­men­ar­beit von Peschmerga und YPG wird türki­sche Natio­na­listen auf den Plan rufen.

Die sich überschla­genden Ereig­nisse fallen in eine Zeit, in der die Entwick­lung in der Region und in Kurdi­stan ohnehin an einen kriti­schen Punkt gelangt war –  nur wenige Tage, nachdem der Waffen­still­stand zwischen der türki­schen Regie­rung und der PKK ernst­lich infra­ge­ge­stellt wurde. Nachdem bei fried­li­chen Massen­pro­testen gegen die Errich­tung neuer Militär­stütz­punkte in Kurdi­stan in Lice mehrere Demons­trie­rende durch das türki­sche Militär getötet worden waren, schien der « Friedens­pro­zess » an ein Ende gelangt. Zunächst sah es zwar danach aus, dass der im Gefängnis auf der Insel Imrali einsit­zende Führer der PKK, Abdullah Öcalan, die von der PKK-Leitung verkün­dete Mobili­sie­rung der Kämpfe­rInnen bei einem Gespräch mit kurdi­schen Politi­kern mit einem Macht­wort gestoppt habe. Doch nur einen Tag später gab es Gerüchte, dass dem State­ment von Öcalan « draußen » nicht mehr geglaubt wird. Statt­dessen sollen direkte Gespräche zwischen PKK-Führung und Öcalan gefor­dert worden sein – ohne die Vermitt­lung durch die kurdi­schen Parteien HDP und BDP. Bis zu solchen Gesprä­chen soll der Waffen­still­stand nicht mehr gelten. Neben der kriege­ri­schen Zuspit­zung im Irak und dem fortge­setzten grausamen Krieg in Syrien droht also auch in der Türkei selber wieder eine militä­ri­sche Ausein­an­der­set­zung zwischen türki­scher Regie­rung und PKK. Ganz Kurdi­stan befindet sich also in einer explo­siven Situa­tion.

Bei alldem ist die Lage in den südkur­di­schen Städten derzeit fast surreal fried­lich – trotz der zuvor geschil­derten Probleme. Unsere Freundin schreibt von einem für sie nur schwer nachvoll­zieh­baren Vertrauen auf die Stärke der Peschmerga und in die Regio­nal­re­gie­rung. Uns bleibt für sie und die betrof­fenen Menschen in Kurdi­stan erstmal nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass dieses Vertrauen gerecht­fer­tigt ist.

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