Der Zorn ist berechtigt

 

Wupper Nachrichten vom 05.06.1993
Titel­seite ; Artikel von Knut Unger

Der Zorn ist berech­tigt

Am 26. Mai beschloß der Bundestag unter massiven Protesten die weitge­hende Einschrän­kung des Asylrechts im Grund­ge­setz. Die irrwltzlgen Hoffnungen, mit solcherart Abschot­tung den grassie­renden gewalt­tä­tigen Natlo­naI­ismus zu beruhigen, erwlesen sich schon wenige Tage später als trüge­risch : Der Mordan­schlag auf das türksche Haus in Solingen hat der Welt wieder das deutsch­land der Brand­leger vor Augen geführt. Darüber­hinaus hat er aber In der türki­schen BevöIke­rung eine Welle der Empörung ausge­löst, die bislang in der Bundes­re­pu­blik unbekannt war.

Seit Tagen beweisen die Vorgänge auf Solinger Straßen und anderswo : Die Türkinnen und andere Menschen ohne deutschen Paß sind es leid, die Opfer­rolle zu spielen. Auf den Straßen Solin­gens ist Trauer umgeschlagen in Zorn und Verzweif­lung. Zorn auf die Unfähig­keit des „staat­li­chen Gewalt­mo­no­pols”, Menschen­leben zu schützen. Verzweif­lung über diese deutschen Zustände, die des Todes von fünf Menschen bedürfen, um ernst­haft darüber zu debat­tieren, ob vielleicht seit Jahren hier Steuer zahlende Menschen auch das kommu­nale Wahlrecht bekommen sollten.

Verzweif­lung aber auch über die Eigen­dy­namik der Protest­re­ak­tionen, die die Trauer der Opfer, die Betrof­fen­heit der Nachba­rinnen und die Ansätze zu einer multi­kul­tu­rellen AIItags­kultur in Solingen links liegen läßt. Die ausge­brannte Ruine des türki­schen Wohnhauses an der Unteren Werner­straße ist in wenigen Stunden inter­na­tional zum Kainsmal des völki­schen Deutsch­land avanciert, eines Einwan­derln­nen­landes, das seine Einwan­de­rInnen zu Auslän­de­rInnen stempelt und dessen Inlän­derlnnen immer wieder rassis­ti­sche Mörder­banden hervor­bringen. Gerade weil Solingen keine Pogrom­stim­mungen kannte wie Rostock oder Hoyers­werda und weil die hiesigen Politi­kerlnnen zumin­dest emotional begonnen haben, sich auch als Vertre­terlnnen der Zugewan­derten zu sehen, hat sich in den Tagen nach dem Mordan­schlag eine Wut ausbreiten können, die ihre eigenen natio­nalen Symbole findet. Vor allem bei den syste­ma­tisch unter­pri­vi­le­gierten Kindern der „Gastar­beiter” hat das Leiden­schaften geweckt, die von artigen Multi-Kulti-Betereien und linken Basis­ak­ti­vi­täten wenigs­tens zeitweise nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden können.

Ohne Zweifel wäre diese Entwick­lungs­dy­namik nicht denkbar ohne die AIIge­gen­wart der audio­vi­sue­lien Medien, deren Bilder und Töne kein Pardon kennen vor der Langsam­keit des Beden­kens und des Sich-Verstän­di­gens über das Schreck­liche. Die objek­tive Gewalt nach der Gewalttat an der Werner­straße lag bei den Medien, ihren Insze­nie­rungen fäuste­schüt­telnder Funda­men­ta­listen, ihren Bildern vom ausge­brannten Haus und brennenden Straßen­kreu­zungen, ihrer Desin­for­ma­tion über angeb­liche links­ra­di­kaie Gewalt­täter. Trotzdem oder deshalb ist die Gewalt der Protes­tie­renden weitge­hend symbo­lisch geblieben, hat die massiv präsente Polizei bis jetzt darauf verzichtet, Polizei­staats­ge­lüste zu befrie­digen. Vielleicht weckt sie sie um so mehr ? Es ist gerade die Unein­deu­tig­keit dieser Situa­tion, die neben Ängsten auch Hoffnungen erlaubt. Gerade weil in diesen Tagen Emotionen über das Vernünf­teln und Vertagen in Ausschüssen und Gremien trium­phiert haben, besteht vielleicht dar Ansatz­punkt eines antiras­sis­ti­schen Einschnitts in den Gemüts­haus­halt der deutschen Kabei­teil­nehmer.

Nicht allein die Betrof­fen­heit und erstaun­liche Beson­nen­heit zeigenden Bürge­rInnen Solin­gens, die Herz und Verstand bewei­senden türki­schen Familien, auch die rebel­lie­renden Jugend­li­chen aus den umlie­genden Städten haben ein für Deutsch­land neues Zeichen gesetzt : Gegen den neona­tio­na­lis­ti­schen Spuk, der zuletzt in der Erledi­gung des Asylrechts seinen Ausdruck fand, gegen den Mythos der fehlge­lei­teten jugend­li­chen Substan­dard-Deutschen, hat sich ein Deutsch­land der wirklich Ausge­grenzten, der recht­lich Nicht­da­zu­ge­hö­rigen, der begründet Wütenden gezeigt ; eine Jugend, die spontan reagiert, aber dabei ebenso spontan denje­nigen folgt, die die abenteu­er­li­chere Alter­na­tive zum Ausleben der Emotionen anbieten. Vieles hängt jetzt davon ab, ob es den aufge­klärten und linken Kräften gelingt, diese Leute emotional für sich zu gewinnen und sie nicht den angereisten Agita­toren rechter Sekten überläßt. Auf den Solinger Straßen haben die diversen Tradi­ti­ons­ver­bände der deutschen und inter­na­tio­nalen Linken bislang jeden­falls kläglich versagt. Mag sein, daß die Empörung ein „Spuk” bleibt, ein kurzes Aufglimmen der Bildschirme. Auf jeden Fall wird der Mordan­schlag in der Region lange Nachwir­kungen haben.

Daß ausge­rechnet die bergi­sche Einwan­derln­nen­re­gion mit ihren 11 bis 16 Prozent meist als „gut integriert” geltenden nicht­deut­schen Bewoh­ne­rinnen, mit ihren so sehr um „Auslän­der­freund­lich­keit” bemühten Führungen seit gut einer Woche Schau­platz einer neuen Qualität inter­eth­ni­scher Konflikte in Deutsch­land ist, verweist auf die grund­le­gende Schizo­phrenie der herrschenden Menta­lität : Da wird Völker­ver­stän­di­gung simuliert, anstatt Einwan­de­rungs­po­litik zu prakti­zieren, und mit Abschot­tungs­pa­ra­gra­phen sollen Überfrem­dungs­ängste integriert werden. Die Chance und die Hoffnung der Solinger Ausnah­me­tage liegt in der Forde­rung : Schnell und umfas­send muß die Politik konkrete Maßnahmen ergreifen, die dieses Land zu ?einem wirklich, inter­kul­tu­rellen machen.

Es darf keine Bürgerlnnen zweiter und dritter Klasse mehr geben. Das völki­sche Staats­an­ge­hö­rig­keits­recht muß verschwinden, wer hier lebt, muß auch alle Bürger­rechte bekommen. Es muß eine Bildungs-, Sozial- und Kultur­po­litik betrieben werden, die die Diffe­renzen der Herkunft und der Kultur auf der Grund­lage voller Gleich­be­rech­ti­gung akzep­tiert und gleich­wohl an einer Gesell­schaft arbeitet, die gemein­same mensch­liche, soziale und demokra­ti­sche Werte besitzt. Nicht mehr Polizei, nicht mehr Staat, sondern das wirkliche Gemein­wesen der hier lebenden Menschen stellt den wirksamsten Schutz vor rassis­ti­scher Gewalt dar. Der Aufbau eines Sicher­heits­netzes kann nicht mehr allein der überfor­derten Polizei überlassen werden. Solange aber Linke und Antiras­sis­tInnen keinen Weg aus der (Selbst-) lsola­tion finden, solange in Kommu­nal­gre­mien, Organi­sa­tionen, und Nachbar­schaften Mitwir­kende sich nicht aus ihrer politi­schen Unter­ord­nung unter die Logik der NationaI-Staats­macht befreien, solange besitzen die „Riots” der in diesem Lande zu Fremden gestem­pelten das natür­liche Vorrecht des Wider­standes, – auch wenn es ein Wider­stand ist, vor dessen Folgen uns grausen muß.

Knut Unger

 

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